Die Familie ist der wichtigste Ort zur Vermittlung von Werten

WESTFALEN – BLATT
WERTE UND WANDEL, 18. September 1993

Die Kindererziehung ist oft zu einer Feierabendbeschäftigung verkommen

Von Elisabeth Motschmann

Zunehmende Bereitschaft junger Menschen zur Gewalt hat nach dem ersten Erschrecken zu ernsten Fragen geführt: Welche Ursachen haben zu dieser ethischen Verwahrlosung geführt? Wer hat versagt? Die Familie, die Schule, die Kirchen, die Medien? Wer über diese Fragen nachdenkt, wird schnell zu der Überzeugung kommen, daß staatliche Institutionen und Medien allenfalls eine Mitverantwortung trifft.

Hauptverantwortlich für den Werteverfall junger Menschen bleibt die Familie. In der Familie wird das Fundament gelegt, auf dem ein Mensch sein ganzes Leben aufbauen kann – oder eben auch nicht. Eine der ersten und wichtigsten Lebenserfahrungen des Kindes ist das Vertrauen zu seinen Eltern. Jede Verletzung, jede Enttäuschung dieses Vertrauens hinterläßt Spuren in der Seele des Kindes. Versäumnisse beim Aufbau von Vertrauen sind später schwer aufzuarbeiten.
Vater und Mutter sind Vorbilder für ihre Kinder – gute oder schlechte. Was sie ihren Kindern vorleben, werden sie im Verhalten des Jugendlichen und Erwachsenen wiederentdecken. Eltern, die in Familie und Beruf verantwortlich handeln, legen damit den Grundstein für die Verantwortungsbereitschaft ihrer Kinder. Gleiches gilt für Werte wie Treue, Gerechtigkeitssinn, Toleranz, Bescheidenheit, Geduld und die Bereitschaft zu teilen und zu helfen.

»Nur einer von 100 Bundesbürgern erwartet von einem Leben ohne Familie
größeres Glück«

Das Hannoversche Magazin von 1786 nennt einige Aufgaben der Familie, die wir lange nicht mehr ernst genommen haben: »Gegenseitige Rücksichtnahme – Anstand – Interesse füreinander, Teilnahme, Duldsamkeit, Selbstbeherrschung, kurz: die Aufgaben, sich gemeinschaftlich und wechselseitig zu veredeln und zu vervollkommnen.« Man mag das altertümlich finden. Aber vielleicht lohnt es sich nach Mölln und Solingen, neu darüber nachzudenken.
Ein seltsamer Widerspruch: nur einer von 100 Bundesbürgern erwartet von einem Leben ohne Familie größeres Glück.

»Die Karrieren der Eltern sind der Grund, daß immer mehr Kinder immer öfter allein gelassen werden«

Das Infas-Institut befragt junge Leute in Nordrhein-Westfalen, wofür sie sich am liebsten engagieren, und die Familie steht unangefochten an erster Stelle. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Scheidungen ständig zu, leben immer mehr Paare in nicht ehelichen Gemeinschaften, ist jeder dritte Haushalt bereits ein Einpersonenhaushalt und der Zustand in den Ehen äußerst kritisch.
Erschreckend abgenommen hat die Zahl der Kinder, und ihre Erziehung ist zu einer Feierabendbeschäftigung verkümmert. Die Karrieren der Väter wie der Mütter sind der Grund, daß immer mehr Kinder immer öfter allein gelassen werden. Falsch verstandene Selbstverwirklichung lastet wie ein öffentlicher Druck auf der Familie.

Wie sehr hat man die Nase gerümpft über Mütter, die sich ausschließlich auf ihre Familie konzentriert und auf eine Berufstätigkeit ganz oder vorübergehend verzichtet haben. Man hat sie belächelt, gering geschätzt, bemitleidet. 1976 bezeichnete die Soziologin Helge Pross die Hausarbeit als »Dreckarbeit«. Simone de Beauvoir diffamierte die Mutterschaft als »wahre Sklaverei« und Alice Schwarzer spricht vom Hausfrauenghetto.
Das negative Reden über die Familie und die mit ihr verbundenen Aufgaben ging nicht spurlos an der jungen Frauengeneration vorüber. Mutterschaft wird zwar noch von den meisten jungen Frauen angestrebt, soll aber kein zeitliches Opfer verlangen. Das Kind darf keinen »Karriereknick« mit sich bringen. Es ist ein skandalöser Betrug, Frauen unentwegt vor den Einengungen und Beschränkungen der Mutterschaft zu warnen. Denn uns »gemeinschaftlich und wechselseitig zu veredeln und zu vervollkommnen«, wir können auch sagen das Kultivieren der uns anvertrauten Kinder, ist alles andere als eine stumpfsinnige Aufgabe für ein »dümmliches Heimchen am Herd«.
Es ist eine der verantwortungsvollsten, schwersten und zugleich kreativsten Aufgaben, die uns übertragen werden. Dies gilt es jungen Eltern ins Bewußtsein zu rufen. Man kann manche Arbeit im Haushalt anderen übertragen, die Begleitung und Erziehung von Kindern sollten Eltern wenn irgend möglich nicht aus der Hand geben. Jedes Kind ist ein Kosmos.

»Die Begabungen in unseren Kindern kann niemand zwischen Tür und Angel entdecken, wecken und fördern«

Wie viele unterschiedliche Begabungen schlummern in unseren Kindern! Sie entdecken, wecken, fördern kann niemand zwischen Tür und Angel, zwischen Sesamstraße und Abendbrot. Welche Kinderfrau, Tagesmutter oder Horttante bringt das Interesse und die Sensibilitäten der eigenen Eltern auf, die Möglichkeiten, die in einem Kind stecken, zum rechten Zeitpunkt zu erkennen. Kindergarten und Schule fordern und fördern ein Kind in mancher Hinsicht. Auch die beste öffentliche Institution kann aber die Familie allenfalls ergänzen, nicht ersetzen.

Erst recht gilt das für die christliche Erziehung, zumal in einem Zeitalter zunehmender Glaubens- und Kirchenferne. Zum Beispiel Vergebungsbereitschaft oder Nächstenliebe lernt das Kind in der Famile. Außerhalb der Familie wird diese »Lücke« kaum geschlossen werden. Man kann den christlichen Glauben nicht anerziehen, er muß vorgelebt und so dem Kind erfahrbar gemacht werden. Wo dies als lästige Pflicht oder als »Programm« verstanden wird, ist in Wirklichkeit der Mißerfolg programmiert.

Gerade die Weitergabe christlicher Werte an die nächste Generation verlangt persönlichen Einsatz und Zeit, ist aber auch Freude und die beste »Zukunftsinvestition« überhaupt. Den Amerikanern ist die Familie bereits wieder wichtiger als die Karriere. Auch bei uns wird es höchste Zeit, das negative Reden über die Familie zu beenden.
Familie als der erste und wichtigste Ort zur Vermittlung von Werten braucht unsere Unterstützung. Diese leisten wir zunächst ganz einfach damit, daß wir über die Familie privat und öffentlich wieder positiv reden.


Elisabeth Motschmann,
geboren 1952 in Lübeck,
verheiratet, 3 Kinder.